Kapitel 24: Der Ausbeuter am Fenster

Ganz lange wurde »Gewerkschaft« von meinem Vater mit einem ärgerlichen Unterton ausgesprochen. Als Kind entwickelte ich zu Gewerkschaften somit eine natürliche Abneigung, es gab sonst Ärger. Oder zumindest Erstaunen über unsere Ansichten.

Mein Vater war Vorsitzender der Nordhessischen Arbeitgeberverbände, die Metallindustrie wurde bestreikt, die Arbeit im Werk dieses Mannes musste als Prinzip ruhen. Für einen Tag gelang dies auch. Der Protestzug wurde extra umgeleitet, stoppte am Verwaltungsgebäude unter dem Fenster des Chefs. Mit Megafon wurde sein Erscheinen verlangt. Fahnen geschwenkt. Niemand rechnet mit dem Erscheinen des Präsidenten. Viel zu weit weg war der von ihren Interessen.

Sie irrten sich: Der Unternehmenslenker erschien am Fenster. Die unterschiedliche Augenhöhe war etwas unglücklich. Der Patriarch blickte herab, das streikende Volk herauf. Es wurde ruhig. Mein Vater sprach in Zimmerlautstärke, auf der Straße gut verständlich. Es schien so, als würden selbst die Autos eine Umleitung fahren für diesen Moment. Der Hausherr hatte sein Jackett ausgezogen. Ein Domo-Kommunikationschef hätte das so empfohlen, es gab aber keinen. Es gab auch keine eingeübten Redebausteine. Mein Vater sprach frei, wie immer. Drei, vier Sätze, freundlich, bestimmt. Die Einigung würde kommen. Da sei er sich sicher.

Unten stand auch der Betriebsratsvorsitzende. Aufmerksam hörte er zu, dankte Knierim für die Auskunft, forderte zum Weiterziehen auf. Der Gewerkschaftsvorsitzende schaute etwas sauer und forderte zum Weiterstreiken auf. Die Gruppe entfernte sich langsam, die Fahnen hingen etwas schlaff. 

Betriebsrat und Geschäftsleitung begegneten sich bei Domo in der täglichen Arbeit normalerweise auf Augenhöhe. Dann Rollenwechsel, die monatlichen Betriebsratssitzungen wurden per Agenda angekündigt, Chefsekretärin Fräulein Schmidt tippte auch diese, war zur Verschwiegenheit verpflichtet.

Zuerst wanderte die fertige Agenda in das Eingangsfach mit dem Schild »BR«, die Hauspost wurde verteilt, das Schreiben vom BR unterzeichnet, ins Eingangsfach »GL« gesteckt, die Hauspost wurde verteilt, die GL nahm es zur Kenntnis. Es gab immer Überraschungen, gerne Forderungen. Die beiden Männer testeten ihre Macht. Sie konfrontieren sich nie direkt.

Der Betriebsrat kam aus dem Werk, war freigestellt, schon ewig im Betrieb. Mein Vater nannte ihn, wenn er über ihn sprach, nur beim Nachnamen. Der Betriebsrat macht das genauso, auch als ich mit ihm zusammen arbeitete. Der gegenseitige Respekt drückt sich paradoxerweise so aus, ein »Herr« vor dem Namen wäre nicht angebracht. Zuviel Distanz.

Auf der großen, jährlichen Betriebsversammlung, die nebenan im Saal des Olof-Palme-Haus abgehalten wurde, gab es immer eine Rede des nordhessischen Gewerkschaftsvorsitzenden. Wenn er vom Betriebsrat gebeten wurde, das Wort zu ergreifen, verließen immer drei Mitarbeiter aus dem Werk demonstrativ den Raum. Ich habe nie gefragt, warum sie das taten. Sie warteten im Vorraum, bis es vorbei war. Welche Erfahrungen hatten sie gemacht?

Als wir auf einer Versammlung die neuen Projektgruppen Domo-Kreativ vorstellten, griff der Gewerkschaftsvorsitzende uns hart an, verglich die Gruppen mit »Qualitätszirkeln« – seinerzeit das rote Tuch für die Gewerkschaften. Nach der Sitzung sprach ich den Gewerkschafter an und erkläre ihm unser Konzept. Wir kamen inhaltlich nicht überein. Denn in seinen Augen, in seiner Körpersprache spürte ich: »Du bist mein Feind.« Und dieser Feind hatte ein Ausbeuter zu sein, der Missstände verursachte, nicht über sie diskutieren ließ und auch nicht Lösungen initiierte.

Ich hatte 24 Jahre meines Lebens gebraucht, um diese Erfahrung zu machen. Ich stand innerlich unter Schock, dann verstand ich, was geschehen war: Ich wurde durch meine Herkunft beurteilt, nicht durch meine Argumente. Meine Eltern hatten mir in ihrer Erziehung genau das Gegenteil vermittelt. Später sprach ich mit Betriebsrat und dem Chef über das Geschehen. Beide erklärten mir die künstlichen Fronten. Einmal im Jahr auf der Versammlung ließ sich das aushalten.

Der Betriebsrat starb ein paar Jahre nach Knierim, auf seiner Beerdigung auf dem Hauptfriedhof gab ich ihm das letzte Geleit. Es war mir eine Ehre.