Kapitel 25: Singapur-Kopie? Nein: Plagiat!

Ich hatte auf einmal drei neue Geschwister. Die drei Singapurer begrüßten meinen Vater in ihrem einfachen Büro mit dem deutschen »Papa«. Hatte es heimliche Adoptionen gegeben? Mein Vater eine Zweitfamilie in Fernost? Ich war als Stiefbruder auf jedem Fall gleich akzeptiert. Ich zögerte keine Sekunde, ließ mich in den Arm nehmen. Die Familie war einfach zu herzlich.

Im Familienunternehmen war jeder, der es mit sich geschehen ließ, Teil der Familie. Da war es nur folgerichtig, den Chef auch als Papa zu bezeichnen. Und das taten diese drei jungen Männer aus Singapur. Die fernöstliche Domo-Familie verbrachte ganze Tage mit uns, um schließlich am vierten Tag Vatermord zu begehen.

Unsere drei Singapurer stellten als Hauptprodukt für Knirps die Regenschirme her. Die Umbrella-Factory in einem Land, in dem es kaum regnete. Auf deutschen Singer-Nähmaschinen werkelten bestimmt 100 Frauen und Männer in einer niedrigen Produktionshalle. Der Lärm war höllisch. Wir gingen durch den Mittelgang, jeder Mitarbeiter blickte auf, lächelte. Ich bildete mir ein, dass es ein ehrliches Lächeln war. Fast kindlich. Es verschwand auch nicht sofort wieder, wenn sie sich wieder ihrem Schirm widmeten. Es blieb noch eine Weile auf ihrem Gesicht. Wir liefen in einer Slow-Motion-La-Ola-Welle des Lächelns.

Abends ging es um 18 Uhr immer in den Jockey-Club. Dort sah ich um ersten Mal die Kehrschaufeln mit Klappmechanismus, die über den Stiel per Knopf bedient wurden. »Klackklack« um uns herum. Waren meine Brüder alle Junggesellen? Ich fragte nach ihren Frauen. Selbstverständlich waren sie verheiratet, selbstverständlich waren die Frauen zu Hause bei den Kindern, selbstverständlich waren im Club nur Männer zugelassen. Meine Mutter als Ausländer natürlich ausgenommen. Sie war auch die Einzige, die Zigaretten rauchte. Reyno Menthol fresh. Bei allen anderen ruhten schwellende Zigarren im Aschenbecher.

Am vierten Tag besichtigten wir die Lagerhallen mit unseren Produkten. Ganz am Ende des Weges hörten wir Produktionsgeräusche. Als dramatischen Höhepunkt unserer Reise öffnete sich das elektrische Tor, der Bewegungsmelder hatte ausgelöst. Der Vorhang hatte sich geöffnet, die Bühne war frei für den letzten Akt. Wir standen in Bukit Batok, Singapore, vor der Miniaturversion unserer Produktionsstraße aus Kassel, Germany.

Am Rand war der Prototyp einer Sanitäranlage aufgebaut. Mein Vater umwanderte die Konstruktion, ging in die Knie, fasste an, wackelte an der Konstruktion. Aus seinem Kopf stiegen Gedankenwölkchen auf: »Einige Verbesserungen im Detail, etwas weniger Material.« Es war die einfache Version des Topmodells ZF. Jetzt waren sie nur noch meine Stiefbrüder. Sie erzählten von ihren Mühen im Verkauf. Nicht jeder hätte das Geld, die teueren Modelle aus Deutschland zu kaufen. Und eine billigere Variante hätten sie von uns, trotz vielem Nachfragens, nicht bekommen. So waren sie tätig geworden. Mussten tätig werden. Der Markt! Die Kunden!

Mein Vater trug es mit Fassung. Äußerlich. Wir kehrten ins Hotel zurück, brachen die Whiskeyflasche aus dem Duty Free an, schenkte uns jedem ein großes Glas ein. In Deutschland war es früher Morgen. Hier war es kurz nach vier am Nachmittag. Also völlig in Ordnung, sich einen zu genehmigen.

Hier nun, 10.185 km entfernt von der Heimat, begegnete ich meinem Vater zum ersten Mal auf Augenhöhe. Ich war Gesprächspartner in der Krise, es mussten Pläne geschmiedet werden, auf die neue Situation reagiert werden. Auf einem Stück Papier sammelten wir die Argumente, die Risiken und Chancen, die Schwächen und Stärken. SWOT-Analyse. Endlich konnte ich meine universitäre Theorie anwenden. Ich spürte eine starke Verbundenheit mit meinem Vater, es ging um etwas Großes. Unser Geschäftsmodell war bedroht, ganz unmittelbar wirkten unsere Unternehmergene. Überleben. Im Normalfall: Freeze, Fight or Flight, Erstarrung, Angriff oder Flucht. Hier nur: Angriff. Telefonisch erklärten wir uns einverstanden. WIR. Lizenzierten die neue, einfachere Version und versprachen Unterstützung in der Produktion. Konnten uns vorstellen, die Container mit den Produkten aus deutscher Produktion auf dem Rückweg mit Singapurware zu füllen, in Kassel zu entladen, zu vermarkten. Ein perfekter Kreislauf. Eine Hand wäscht die andere. »If you can’t beat them join them.«

Nach den erfolgreichen Verhandlungen saßen wir ein letztes Mal im Jockey-Club. Prosperous Business. Mein Vater hatte nicht auf »Knierim« reserviert, da unaussprechbar außerhalb Deutschlands. Sondern mit dem Firmennamen. Am Eingang verbeugte sich der Kellner und hieß »Mister Domo« wärmstens willkommen.

Neben uns plätscherte das Wasser vom künstlichen Wasserfall in den künstlichen See. Zur Feier des Tages hatten wir die Topplätze gebucht. New Deal. Auf den Tisch kam die Meeresfrüchteplatte. Alle stürzten sich sofort auf die Fischstücke, die Shrimps, die Muscheln. Keiner hatte einen Teller vor sich. Die Soßenspuren von der Platte zu den Essern zeugten von der Qualität des Essens. Je mehr gegessen wurde, je breiter die Spuren, umso besser. Um hier zu überleben, hatte ich schnell gelernt, mit Stäbchen zu essen. Wenn du auf ein Besteck wartest, sind die besten Bissen weg. Wenn du dich nicht anpasst, bist du raus. Stehst hungrig vom Tisch auf. Selbst schuld bist du dann. Lerne schnell. Passe dich an. We agree.

Das Essen wurde abgeräumt, noch einen Whisky. Die Soßenspuren gewürdigt. Die Agreements gefeiert. Wie es so ist in einer Familie. Schwamm drüber. Alles gut gegangen. Weitermachen. Der Vatermord war auch nur eine Metapher für die Loslösung der Kinder.

Am nächsten Tag flogen wir weiter nach Hongkong und ich lernte meinen vierten Stiefbruder kennen: Johnny.

Foto: Wikipedia Commens Photographer of G.R. Lambert & Company https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Photographic_Views_of_Singapore_Plate_22_Malay_Rajahs.jpg